Nur die Ruhe
Text: Gabriele Thiels
Im Allgäu machten zwei Hamburger aus einer alten Schule ein Hotel, dessen Luxus in der Reduktion auf Wesentliches besteht: essen, schlafen, entspannen. Dazu ein Blick, der glücklich macht. Gabriele Thiels war zu Gast.
Sonne satt: „Loge 1“ geht nach Südost. An Wintertagen serviert die Landschaft vorm Haus Zucker zum Frühstück. Das einstige Klassenzimmer wurde zur Lounge. Das gesamte Interieur entwarfen Anja Schott-Engelke und Michael Schott selbst.
Das Paar hat alles selbst geplant, und die mit Samt bezogenen Cocktailsessel, die Messingleuchten, das fein abgestimmte Spiel der Farben – viel Grün, etwas Lila, dunkles Rosa und Creme –, die geschwungenen Waschtische, ja, selbst die Lichtschalter zum Drehen sind von den 1930ern inspiriert, der Erbauungszeit des Hauses. Für Konzept, Design und Atmosphäre nahmen sie sich das Stockholmer Boutique- Hotel „Ett hem“ („Zuhause“) zum Vorbild. Dessen Gründerin allerdings arbeitete mit einem Team internationaler Profis und überließ die Gestaltung Stardesignerin Ilse Crawford. Die „Alpenloge“ dagegen ist ein Herzensprojekt, aus dem Zufall entstanden und mit so viel Konsequenz, Leidenschaft und Persönlichkeit verfolgt, wie sie wohl nur Quereinsteiger aufbringen können.
Als sich Anja Schott-Engelke und Michael Schott vor zehn Jahren in Ham-burg kennenlernten, hatten sie sich beide schon im Leben eingerichtet und eigene Karrieren aufgebaut. Anja, geborene Kielerin, Soziologin und Mutter eines Sohnes, arbeitete im bürgerschaftlichen Engagement (sie gründete
„Wi mook dat“ mit, einen sozialen Aktionstag für Hamburger Unterneh-men), Michael, gebürtig vom Bodensee, war als Werbefotograf für die Autoindustrie erfolgreich. „Wir waren gern in Hamburg, aber wir haben uns gefragt: Machen wir noch mal was Neues?“, sagt Michael. So kam die Idee auf, Ferienwohnungen zu kaufen und zu vermieten, irgendwo auf dem Lan-de, als Kontrastprogramm. Sie suchten im Norden, im Süden, auf Mallorca. Auch in Scheffau gab es eine Option. Sie zerschlug sich, aber als sie durchs Dorf spazierten, fiel ihnen das verlassene Schulhaus ins Auge, sie machten ein Selfie davor. „Seitdem hat es auf uns gewartet“, sind sie überzeugt. Als das Gebäude tatsächlich auf den Markt kam, erhielten sie den Zuschlag.
Dass sie, statt zu renovieren, abreißen und neu bauen mussten, weil sich die Substanz als marode erwies, „war natürlich ein Schock“. Aber er löste einen „Wenn schon, denn schon“-Reflex aus: Keine Apartments, sondern ein Boutique-Hotel sollte entstehen, wie sie es sich auf vielen Reisen erträumt hatten. Dass sie dafür den Neubau ganz nach dem originalen Schulhaus planten – neu sind nur die Balkons auf der Rückseite und der Wintergarten –, erschien logisch und brachte ihnen die Sympathie des Dorfes ein.
So erscheint die „Alpenloge“ wie eine Membran, durch die die Landschaft diffundiert und mit den Gästen reagiert: Wenn am Nachmittag plötzlich eine Horde Jungs den sanften Hügel vor dem Haus hinunterrennt, einer hinter dem anderen, wie Scherenschnitte in der Dämmerung, wird man selbst wieder zum Kind. Das Abendläuten und die Glocken der Allgäuer Kühe ersetzen jeden Gong-Workshop, die vielen Katzen, die im Gras auf Beute lauern, jedes Achtsamkeitsseminar. Und wer früh am Morgen vom Bett aus zusieht, wie überm Berg die Sonne aufgeht, der fühlt sich ausgeruht, gut aufgehoben und als Teil des Ganzen. Mehr geht nicht.
Der Kaffee kommt aus einer Hamburger Rösterei, der Kräuterlikör in Dder Hausbar heißt „Kieler Tropfen“. Mehr Reminiszenzen an den
Norden finden sich nicht in der „Alpenloge“ im Westallgäu, so-lange Anja Schott-Engelke auch überlegt. Aber frühmorgens steigt aus dem Tal manchmal der Nebel auf und taucht die Landschaft wie in Milch. „Man kann sich einbilden, man steht an der Förde und schaut aufs Meer“, sagt sie und lacht, von Heimweh keine Spur. Warum auch? Denn erstens gibt es auch hier Wasser von respektabler Größe – der Bodensee liegt nur 15 Minuten entfernt. Zweitens „sind die Allgäuer den Norddeutschen nicht unähnlich. Erst mal zurückhaltend, aber wenn sie einen dann mögen, öffnen sie sich.“ Und drittens ist das Projekt, das sie hier mit ihrem Mann Michael Schott verwirklicht hat, reinster norddeutscher Understatement-Export.
Ihre neue Heimat ist Scheffau, ein Dorf auf 600 Metern mit 500 Einwoh-nern, gleich an der Grenze zu Österreich, malerisch gelegen in einer sanften Hügel-, Wiesen- und Wälder-Landschaft. 2018 zogen sie von Hamburg, wo beide gut 25 Jahre gelebt hatten, hierher, um aus der ehemaligen Dorfschule ein Hotel zu machen. Die „Alpenloge“ bietet Luxus nach dem „Weniger, aber besser“-Prinzip: nur neun Zimmer, die aber groß wie Suiten, mit Logen-blick auf die Landschaft und jedes individuell möbliert mit Stücken aus-gesuchter Manufakturen, das Restaurant nur für Gäste, die Küche exzellent, das Spa klein, aber fein.
Von außen ist von alledem nicht viel zu ahnen. Die „Alpenloge“ sieht immer noch wie die Dorfschule aus den 1930ern aus, rotes Spitzdach, Sprossen-fenster, die Fassaden mit Schindeln verkleidet. Sie liegt fast versteckt hinter der Kirche, danach kommen nur noch Wiesen und Wald. Der Weg vom Ortseingang führt zwar hin, aber nicht direkt drauf zu, die Haustür liegt an der Seite, und nur ein kleines Leuchtschild an der Hausecke zeigt den Namen an. Große Auffahrt? Fehlanzeige – auch eine Rezeption gibt es nicht, man wird ja erwartet und von den Gastgebern persönlich eingelassen.
„Wer die große Bühne sucht, der kommt nicht zu uns“, sagt Anja Schott-Engelke. Vielmehr findet man hier Ruhe, Entspannung und eine feine Balan-ce aus Nähe und Diskretion. Es ist ein bisschen so, als wäre man bei stilsiche-ren Freunden in Hamburg-Eppendorf oder auch Winterhude zu Gast, wo die Schotts früher wohnten. Die Gastgeber duzen ihre Gäste (und umgekehrt), servieren ihnen das Essen meist selbst – das köstliche Frühstück (die selbst gebackenen Croissants!) und am Abend die Drei- und Vier-Gänge-Menüs. Koch Mark Bestall bereitet sie aus regionalen Zutaten zu, und sein geräucher-ter Bodensee-Aal mit Ginger-Beer-Sorbet, der gebratene Allgäuer Rehrücken oder das Milchreis-Soufflé mit Glühwein-Sorbet sind zum Niederknien, doch ihr Verzehr soll kein Hochamt sein, weshalb auf den Holztischen statt gestärkter Decken nur Schals aus weißem Leinen liegen. „Macht euch locker“, sagen sie. Zugleich signalisiert das elegante Interieur, dass dies durchaus kein Fläz-Hotel ist, in dem man in Gummischlappen zum Frühstück schlurft.